DIE VORHÖLLE

Von Luc Boltanski

Mit Elisabeth Auer, Holger Endres, Reda Regragui und Mathias Wendel

 

Musik: Patrick Kokoszynski

Regie: Rainer Escher

 

 

“Denn gibt es einen Begriff, der besser als eben der Begriff der Vorhölle geeignet wäre, um mindestens in metaphorischer Sprechweise, die geschichtliche Lage, die heute die unsrige ist, in diesem Landstrich, diesem unseren Europa, in dem wir leben müssen, zu kennzeichnen? Es ist gewiss keine Hölle, aber doch weit entfernt davon, ein Paradies zu sein.”

vorhoelle

 

 

 

 

 

Dies sind die letzten Sätze in Luc Boltanskis Nachwort zu seinem Stück Die Vorhölle. Mit dieser von ihm so bezeichneten Kantate betritt Boltanski religiös-ästhetischen Boden. Er beschreibt die Vorhölle als Ort der Erwartung einerseits und der Selektion andererseits. Denn in der Vorhölle befinden sich Menschen, die darauf warten, ausgewählt und erlöst zu werden. Diese Vorhölle gleicht eher einer Art Warteschleife, aber einer, in der den Wartenden das Ziel, ja die Sehnsucht insgesamt abhanden gekommen sind. Dabei meint Sehnsucht mehr als Bedürfnisse haben; was jedoch dieses ‚Mehr‘ sein könnte, ist vage geworden. So ist es ein Warten ohne Hoffnung, welches die in provisorischen Unterkünften – Zeitungspapier, ein zusammengestauchtes Puppenhaus, ein Nest aus Autoreifen – hausenden Insassen dieser Vorhölle zeichnet. Als „Stimmen der Vergessenen“ werden sie lautbar: jede für sich endlos sich ihrer selbst versichernd, Splitter oder Fragmente eines tonlosen Selbstgesprächs, denen erst die Stimme des Wanderers einen Ort, ein Gesicht, eine Deutung von Hoffnung und Schmerz verleiht. Worauf warten sie? Von welcher Liste wurden sie gestrichen? Wer das wissen will, muss sich in den Raum hineinbegeben, aus dem sich diese Stimmen von – wie Boltanski sagt – zehn verschiedenen Orten erheben. Der Wanderer führt uns in den Raum; er ist ein Führer, dessen Aufgabe es ist, die Zuschauer/die Besucher in ein unbekanntes Territorium zu begleiten. Wie fast 700 Jahre vor ihm der Dichter der „Göttlichen Komödie“, der sich an der Seite Vergils aufmachte, die jenseitige Welt zu erkunden, durchstreift auch der Wanderer dieser Kantate ein Jenseits. Freilich nicht jenes von Hölle, Purgatorium und Paradies, sondern eben die „Vorhölle“. In ihr verharren die Seelen derer, die ohne persönliches Verschulden aus der Offenbarung ausgeschlossenen sind. Sie müssen zwar keine Höllenqualen leiden, sind jedoch vom Zustand der Gnade exkludiert, was ihren eigentümlichen Zwischenzustand, ja ihre gespenstische Schwebe zwischen Existenz und Nicht-Existenz ausmacht. 2007 hat der Vatikan von diesem seit jeher angefochtenen Konzept als einer „unangemessenen, restriktiven Sicht von Rettung“ endgültig Abstand genommen. Worum geht es also? Es geht um das Warten im Sinne einer totalen Auslieferung. Das schiere, ziellose Stehen-auf-der-Liste paart sich mit der „Selektion“ als einem Instrument, das einem den Zugang zu den Lebensbedingungen verschaffen soll, einem Instrument freilich, dessen Kriterien dunkel bleiben und von denen ungewiss ist, ob es sie überhaupt gibt. Denn wer oder was ist es eigentlich, der oder das da selektioniert?

 

Suche nach Erlösung

Mathias Wendel verkörpert in der Inszenierung von Rainer Escher (bei der Premiere die deutschsprachige Erstaufführung) den „Wanderer“, der sich am Ende seines Lebensweges angekommen wähnt und dieZwischenwelt der im Leben oder Beruf Gescheiterten, auf Auserwählung Wartenden durchstreift; der seine Klagen erhebt, Erlösung sucht. Elisabeth Auer, Dirk Mühlbach und Reda Regragui mimen „Die Vergessenen“, Holger Endres einen rätselhaften Akteur (mephistophelischer Schat- ten, Erlöser, Spiegelbild?).

Auch wenn es keineswegs leicht ist, dem Fluss der Deklamationen zu folgen – Escher und sein stark aufspielendes Ensemble zeichnen „Die Vorhölle“ zwischen der beklemmenden Klaustrophobie von Sartres „Geschlossene Gesellschaft“ und dem bizarren Reichtum abgründiger Wunder der Höllenfahrt in Dantes „Göttlicher Komödie“ als verstörend-berührende Theater-Reise.

Mannheimer Morgen 20 11 2012